Thomas Gasteyer ist seit fast 40 Jahren als Rechtsanwalt und Partner bei Clifford
Chance in Frankfurt tätig. Über viele Jahre war der auch in New York zugelassene Anwalt geschäftsführender Partner der Sozietät, seit 2009 ist er als of Counsel in der Funktion des Knowledge Partner Germany aktiv. Gasteyer ist außerdem Mitglied der Satzungsversammlung der Bundesrechtsanwaltskammer und Vorsitzender des für Verschwiegenheitspflicht und Datenschutz zuständigen Ausschusses.  Dort setzt er sich für eine Modernisierung des Berufsrechts ein. Mit einem Team von Juristen und anderen Spezialisten bei Clifford Chance fördert er das Knowledge Management und die Legal Tech-Aktivitäten der Sozietät.
MLTech: Prof. Gasteyer, unterhalten wir uns über Legal Tech. Wann und in welchem Kontext sind Sie denn zum ersten Mal mit dem Begriff Legal Tech in Berührung gekommen?
Gasteyer: Unvergesslich ist mir der erste Hackathon, den ich wohl 2017 in Berlin besuchte. Eine ehemalige Wohnung, voll mit Leuten, die meisten erheblich jünger als ich. Selten habe ich so viele intelligente Leute in einem Raum erlebt, die intellektuell vibrierende Atmosphäre hat mich ungeheuer beeindruckt. Trotzdem beobachtete ich, dass die Leute teilweise aneinander vorbei redeten, weil sie die Sprache des anderen nicht verstanden. Auf der anderen Seite konnten sich einige auch gut in den anderen hineinversetzen und entsprechend kommunizieren. Da habe ich beschlossen, das weiter ausbauen und fördern zu helfen.
Viele Kanzleien investieren inzwischen in eigene Legal Tech Center? Hat Clifford Chance bereits ein vergleichbares Projekt ins Leben gerufen?
Wie viel andere Kanzleien in Legal Tech tatsächlich investieren, lässt sich noch schwer bestimmen. Wir sind durch unsere Knowledge Management-Aktivitäten bereits seit langem in diesem Thema drin. Bisher haben wir unser Licht da etwas unter den Scheffel gestellt. Tatsächlich treiben wir in unserer Sozietät Legal Tech stark voran, international und auch in Deutschland. In Frankfurt haben wir als eine von ganz wenigen Kanzleien ein nicht nur virtuelles, sondern reales Innovationszentrum direkt in unseren eigenen Räumlichkeiten eingerichtet. Das ist ein rund 100 Quadratmeter großer Raum, den wir etwas umständlich, aber treffend Innovation & Best Delivery Hub getauft haben. Dort kommen bereichsübergreifend Anwälte und andere Spezialisten zusammen, um mithilfe smarter Prozess- und Technologielösungen die Beratungsleistungen für und den Austausch mit Mandanten weiter zu verbessern.
Zusätzlich haben wir die Clifford Chance Tech GmbH gegründet, eine Art Plattform für Technologie-Initiativen, um neue und innovative Beratungsprodukte auch jenseits der reinen Rechtsberatung entwickeln zu können. Mit diesen Plattformen wollen wir unsere Expertise bündeln und zugleich den regulatorischen Rahmenbedingungen Rechnung tragen.
Ziel beider Initiativen ist die Unterstützung der Spezialisten, die mit und für uns professionell Software und andere Beratungslösungen entwickeln. Um wirklich ein marktgerechtes Produkt zu schaffen, ist dabei auch unmittelbares Feedback wichtig, was ein Anwaltsbüro wirklich braucht. Beides, Produktentwicklung wie Feedbackschleifen, ist recht zeit- und ressourcenintensiv, aber notwendig für die Verbesserung unserer Praxis.
Außer in Deutschland haben wir weitere Hubs in Europa, in den USA und im asiatisch-pazifischen Raum eingerichtet. In Singapur beispielsweise, wo der Staat Legal Tech-Initiativen stark fördert, haben wir ein großes Programm aufgesetzt und unterstützen die Entwicklung von Produkten, die demnächst marktreif werden.
Was kommt denn 2020 auf den Markt? Was erwarten Sie für das nächste Jahr?
Aktuell testen wir eine Anonymisierungssoftware und arbeiten an einem Abfragetool bezüglich sogenannter DAC6-Mitteilungspflichten an die Finanzbehörden. Bei diesen Prozessen setzen wir vermehrt Legal Design Thinking ein. Auch die technische Integration der verschiedenen Softwarepakete ist eine ständige Herausforderung, denn wir wollen Datensilos vermeiden und digitale und automatisierte Prozessketten bestmöglich in unsere Arbeit implementieren. Das heißt, wir arbeiten gemeinsam mit unseren Anbietern an den Schnittstellen und Prozessen.
Für 2020 erwarte ich allgemein, dass die Diskussion über die Liberalisierung des Rechtsmarktes weitergeht. Wir werden neu entscheiden müssen, ob man weitere juristische Berufe unter der Rechtsanwaltschaft zulassen sollte, die aber das umfassende Beratungsmonopol behält. Das ist wohl derzeit die Tendenz in der Diskussion. Ich erwarte außerdem, dass die Produkte, die Due Diligence unterstützen, also die Erkennung und Auswertung von juristischen Texten, bereits bald einen gewaltigen Schritt nach vorne machen werden.
Schwerer abzusehen ist, welche Anbieter wir am Ende dieses Jahres am Markt sehen werden. Denn eine der größten Herausforderungen für Legal Tech ist , dass die Branche stark wächst und sich fortentwickelt. Da kann es kurzfristig passieren, dass ein Anbieter verschwindet und ein neuer auftaucht.
Würden Sie der Aussage „Eine Vorreiterstellung im Bereich Legal Tech stellt für eine Wirtschaftskanzlei einen wesentlichen Wettbewerbsvorteil dar“ zustimmen?
Im Prinzip ja – die Frage ist, von welchem Markt wir sprechen. In einfacheren Marktsegmenten sind automatisierte Lösungen bereits breit im Einsatz, und generell ist das Interesse an neuen Einsatzmöglichkeiten von Legal Tech bei Mandanten riesig. Da sollten wir als Berater mit Nachdruck weiter an innovativen Wegen und Lösungen arbeiten und so zeigen, dass wir bei dem Thema auf der Höhe der Zeit sind.
Legal Tech ist kein Selbstzweck.
Legal Tech kann dann überzeugende Lösungen hervorbringen, wenn Anwälte zunächst einmal verstehen, dass man im Anwaltsgeschäft nur selten einen Rechts-Guru hat, der eine Lösung herbeizaubert, sondern dass hinter solchen Entwicklungen ein Prozess steht.
Wenn Sie diesen schwierigen und alles andere als selbstverständlichen Erkenntnisschritt geschafft haben, können Sie loslegen und sagen: Für diese oder jene Aufgabe möchte ich jetzt ein Instrument entwickeln, das ungefähr diese Eigenschaften hat und jene Ziele erreichen hilft. Oder Sie können über ein vorhandenes Tool sagen: Damit kann ich mein Ergebnis zu einem Effizienzgrad von 90 Prozent verbessern, wenn ich meinen Prozess hier und dort noch abändere. Mit solchem Denken und Entwickeln in Prozessen erzielen Sie einen wirklichen Wettbewerbsvorteil.
Im Rahmen einer Due-Diligence-Prüfung werden Anwälte mit einer Vielzahl von Dokumenten und Daten konfrontiert, die – nicht selten in sehr kurzen Zeiträumen – geprüft werden müssen. Wie sinnvoll ist Ihrer Ansicht nach der Einsatz von Legal Tech in diesem Bereich?
Gerade hier ist Legal Tech sehr hilfreich. Ich gehöre noch zu denen, die zusammengerechnet wahrscheinlich anderthalb Anwaltsjahre in physischen Due-Diligence-Räumen verbracht haben. Da weiß man: Nach einiger Zeit ermüden wir alle angesichts der schieren Datenmengen. Bei all den ähnlichen Verträgen wird es für jeden nach einer Weile schwierig, die Unterschiede zu erkennen. In der Bewältigung solcher Massendaten ist uns die Maschine überlegen, wenn wir sie richtig einsetzen. Nebenbei hat die technikgestützte Durchsicht einen weiteren Vorteil, der in einem nächsten Schritt zum Hauptzweck werden kann: die Vorbereitung des Vertragsmanagements. Was ich einmal digital erfasst habe, kann ich nämlich auch nach Bedarf anders aufbereiten und darauf in der weiteren Arbeit zurückgreifen.
Viel zu häufig ist bei Legal Tech nur von Digitalisierung die Rede, wobei gerade Automatisierung das Ziel sein könnte. Glauben Sie, dass irgendwann ganze M&A-Transaktionen eigenständig durch künstliche Intelligenzen geprüft werden können, ohne, dass ein Mensch bearbeitend eingreifen muss?
Das glaube ich nicht. Denn wir müssen uns fragen: Was ist eigentlich das anwaltliche Können, unser Mehrwert in einer Transaktion? Unser Können besteht zum geringeren Teil darin, Fehler zu erkennen, und zum größeren darin, Probleme und Risiken zu bewerten und die Frage zu lösen, wie die Parteien am besten mit Problemen umgehen. Kann ich ein Problem oder Risiko beispielsweise in den Kaufpreis einpreisen, also weniger bezahlen? Oder brauche ich einen anderen Mechanismus, sodass sich die andere Partei bei der Risikotragung angemessen beteiligt? Wäre man eines Tages in der Lage, diesen Teil des Know-how und der Fähigkeiten von uns Anwälten auf KI zu übertragen, dann hielte ich das für ein großes Konkurrenzpotenzial, sprich: Wenn ich das im Anschluss an jede Transaktion erfassen und einem Programm zum Lernen geben könnte, dann kämen wir anwaltlicher Kreativität nahe. Aber davon sind wir nach meiner Überzeugung noch so weit entfernt, dass zumindest ich es nicht mehr erleben werde.
Inwiefern wird sich das berufliche Anwaltsbild und der Berufsalltag durch Legal Tech ändern?
Es gibt eine große Bandbreite von Tätigkeitsgebieten und Organisationsformen von Anwaltsbüros, aber auch der Nachfrage nach anwaltlichen Leistungen. Ein gewisser, komplexer und damit höherwertiger Teil dieser Nachfrage wird von Legal Tech wahrscheinlich relativ unberührt bleiben. Dazu gehört das Erfassen von Problemen in unternehmerischen Projekten mittels Mandantengesprächen und unmittelbar damit verbundenen Rückfragen. Ein Beispiel: Wenn mir jemand in Person gegenübersitzt, habe ich viel eher ein Gespür dafür, ob es noch irgendwelche Themen gibt, die eigentlich dazugehören, mit denen der Mandant aber nicht so frei herausrückt. Als Mensch habe ich dann die Möglichkeit, durch eine vertrauensvolle Atmosphäre auch solche unsichtbaren, aber wichtigen Fakten zutage zu fördern und in die Beratung einzubeziehen.
Das Mandantengespräch halte ich für nicht ersetzbar.
Davon abgesehen kann ich mir vorstellen, dass ich als Anwalt dank eines künftigen Legal Tech-Instruments während einer laufenden Tätigkeit, beispielsweise einer Vertragsüberarbeitung, schon sehen kann, was ich selbst oder andere in vergleichbaren Situationen gemacht haben, dass ich Formulierungen vorgeschlagen bekomme oder erste Rechercheergebnisse sehe. Solche Lösungen könnten wir bereits in den nächsten zwei Jahren sehen, manches auch jetzt schon.
Ist Legal Tech für Sie ein Hype, eine Marketingblase oder eine Chance?
Noch vor ein paar Jahren war Legal Tech sicherlich ein Hype. Schließlich hat sich jeder alles Mögliche davon erhofft und sich auch gerne einfach mit dem Begriff geschmückt. Bereits damals hat sich der klassische Innovationszyklus abgezeichnet: Nach einiger Zeit nimmt die erste Begeisterung etwas ab, doch die Beschäftigung mit dem Thema geht weiter, auch durch Phasen gelegentlicher Frustration und damit verbunden Neufokussierung. Statt Hype, Marketingblase oder Chance würde ich sagen: Legal Tech ist eine Notwendigkeit.
Man kommt ganz einfach nicht ohne Legal Tech aus, wenn man zukunftsfähig sein will.
Wir müssen uns meines Erachtens als Anwälte dieser Entwicklung öffnen und versuchen, damit voranzuschreiten. Diejenigen, die damit warten – weil sie erst kaufen wollen, wenn es perfekt ist –, die haben wahrscheinlich Entwicklungskosten gespart, sind wahrscheinlich aber auch in der notwendigen Lernkurve hinterher. Deswegen halte ich das für eine kurzsichtige Herangehensweise.
Wo sehen Sie die größten Probleme Legal Tech weit auszubreiten, sodass es in der Praxis auch wirklich genutzt wird, nicht nur von Anwälten, sondern eventuell auch im Back Office?
Sie müssen viel Energie, Gehirnschmalz und das notwendige Prozessdenken einsetzen. Deswegen können wir eben nicht alles, was wir eigentlich gerne hätten, einfach mal so austesten. Das ist jenseits technischer und logistischer Gesichtspunkte die größte Schwierigkeit. Das Produkt muss nicht nur definiert, sondern dann auch realisiert und schließlich auch noch so implementiert werden, dass die Anwendung technisch angriffssicher ist und den Anforderungen von Berufsrecht und Datenschutz entspricht.
Ist das Gebührenrecht und das Fremdfinanzierungsverbot eine Stellschraube, um auch kleinen Kanzleien die Entwicklung von innovativen Legal Tech-Lösungen zu ermöglichen?
Das ist die aktuelle Diskussion. Wie umfassend ist eigentlich zum Beispiel das Verbot von Erfolgshonoraren? Da ist man nach meiner Wahrnehmung heute schon flexibler als noch vor einigen Jahren. Ein anderes Thema, das Sie erwähnen, ist die Frage, inwieweit man Fremdkapital aufnehmen können sollte. Fremdkapital kann eine Starthilfe für Investitionen sein.
Fremdkapital kann aber auch eine Belastung werden.
Nämlich dann, wenn man als Freiberufler in der Gestaltung der eigenen Praxis nicht mehr frei ist. Gerade wenn Anwälte ihr Arbeitsgebiet oder die Ausrichtung der Kanzlei ändern wollen, können unflexible Kapitalgeber hinderlich sein. Meiner Ansicht nach ist absehbar, dass es in den nächsten Jahren eine intelligente Diskussion über Lockerungen zur Fremdfinanzierung von Anwaltskanzleien geben wird. Man wird dahin gehen zu fragen, was möglich sein sollte, ohne das anwaltliche Konzept der Unabhängigkeit negativ zu beeinflussen.
Herr Gasteyer, haben Sie vielen Dank für das Gespräch.
Fragen von Shazana Rohr, Julia Bürkle und Maximilian Aufhauser
Interview geführt von Julia Bürkle und Maximilian Aufhauser
Clifford Chance ist Sponsor der Munich Legal Tech Student Association e.V.
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